Meine Rede zum Arbeitslosengeld und der Grundsicherung in Zeiten der Corona-Pandemie

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Seit Wochen ruft in meinem Büro eine Rentnerin aus Rostock an, und zwar immer und immer wieder.

Ja, wenn ich jetzt lügen würde, hätte ich gesagt: Aus Köln, aus meinem Wahlkreis. – Aber sie ist tatsächlich aus Rostock. – Die ältere Dame stockt mit der Grundsicherung ihre kleine Rente auf. Die Coronakrise macht ihre Sorgen noch größer. Sie berichtet von steigenden Lebensmittelpreisen, von teuren FFP2-Masken und von Unterstützungsangeboten, die wegfallen. Sie fragt: Warum gibt es für mich eigentlich keinen einzigen Cent mehr, obwohl doch Lufthansa und andere große Unternehmen Millionen bekommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, können Sie das dieser Rentnerin erklären?

Ich kann es nämlich nicht.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Whittaker, CDU/CSU-Fraktion?

Sven Lehmann: Ja, natürlich.

Kai Whittaker: Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade eben erneut – was Sie schon häufiger in Ihren Reden gemacht haben – von steigenden Lebensmittelpreisen berichtet. Ich habe mir mal die Zahlen vom Statistischen Bundesamt geben lassen, das jeden Monat die Preise ermittelt, und ich habe mir den letzten Preisstand von vor der Coronakrise im Januar dieses Jahres sowie den Preisstand von November dieses Jahres angeschaut. Der Preisindex von Januar dieses Jahres, gemessen an den Preisen von 2015, liegt bei 109,2 und von November bei 108,9.

Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass 108,9 weniger ist als 109,2 und dementsprechend Ihre Aussage, dass die Lebensmittelpreise gestiegen sind, falsch ist?

Sven Lehmann: Lieber Kollege Whittaker, vielen Dank für die Frage, die ich auch sehr eindeutig beantworten kann, nämlich damit, dass ich im März und im April – wie Sie wahrscheinlich auch; nehme ich mal an – in die Supermärkte gegangen bin und eingekauft habe. Ich habe sehr schnell festgestellt, dass, wenn man nicht sofort morgens um 7 oder 8 Uhr dort steht, gerade die Produkte, die günstig sind, bereits vergriffen waren.

Das heißt: Die besonders günstigen Produkte sind sehr schnell vergriffen gewesen.

Und wenn Sie sich beispielsweise die Zahlen von Foodwatch – das scheint Ihnen offenbar wehzutun – für diesen Frühling mal genau anschauen, dann stellen Sie fest: Es ist sehr eindeutig, dass gerade die frischen Lebensmittel wie Obst und Gemüse deutlich teurer geworden sind, und zwar so teuer wie seit Jahren nicht mehr. Und das sollten Sie akzeptieren.

Ich komme zurück zu meiner Rede. – Wir Grüne werben deswegen, genau wie die Linken auch, seit Monaten für einen Coronazuschlag auf die Grundsicherung, und zwar Seite an Seite mit einem breiten Bündnis aus Sozialund Wohlfahrtsverbänden, aus Familienverbänden, aus Gewerkschaften, aus den Tafeln. Wir werden nicht lockerlassen, bis das dieser Bundestag endlich beschließt, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Denn es fehlt nicht an Fakten und Informationen. Wir wissen doch, dass die Pandemie Menschen in Armut härter trifft als andere, und zwar gesundheitlich und in ihrer Existenz. Warum lassen Sie also sehenden Auges zu, dass sich aus der Coronakrise eine verschärfte Armutskrise entwickelt? Das darf dieser Bundestag nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Und jetzt ist dazu in der Koalition auch noch ein Kräftemessen um die richtige Hilfe für Soloselbstständige und Kulturschaffende ausgebrochen. Die Union blockiert einen einfachen Zugang zur Grundsicherung.

Die SPD blockiert einen Unternehmer*innenlohn für Selbstständige. Und so blockieren sich eigentlich alle, sodass sich gar nichts ändert. Dieses Trauerspiel auf dem Rücken der Betroffenen muss endlich aufhören, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Denn gerade in Krisenzeiten brauchen wir einen starken Sozialstaat, der unbürokratisch ist, einen Sozialstaat, der unterstützt, der Halt und Sicherheit gibt, der Perspektiven bietet. Hartz IV leistet all das nicht. Deswegen fordern wir stattdessen einen einfachen Zugang zur Grundsicherung, zu einer würdevollen Garantiesicherung. Lieber Kollege Whittaker, das würde noch einfacher funktionieren, wenn die Union genau das nicht blockieren würde.

Wir fordern eine deutliche Erhöhung des Regelsatzes, damit jeder Mensch teilhaben kann. Wir fordern eine Überwindung der Bedarfsgemeinschaften; denn jeder Mensch hat aus sich heraus einen Anspruch auf soziale Sicherung. Lieber Kollege Whittaker, auch das blockiert die Union, und diese Blockade muss endlich aufhören!

Wir fordern einen Verzicht auf die bürokratische und aufwendige Vermögensprüfung, die bloß Zeit und Ressourcen in den Jobcentern kostet. Und da habe ich sehr genau hingehört: Der Minister Heil sieht das genauso. Auch das blockiert die Union. Es geht auf Ihr Konto, dass die Jobcenter hier Zeit mit Sachen verbringen, die einfach nur Zeit fressen und nicht im Sinne der Betroffenen sind.

Ja, ich weiß, das tut weh.

Und vor allem: Stoppen Sie Stromsperren, und verhängen Sie ein Sanktionsmoratorium, damit niemandem gerade in diesen Monaten das Existenzminimum genommen wird. Auch das ist eine Leerstelle Ihrer Politik. Wir warten bis heute auf die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils. Auch das muss schnellstmöglich im Sinne der Menschen umgesetzt werden.

Kurzum: Lassen Sie uns unseren Sozialstaat würdevoll und krisenfest machen; denn ein starker Sozialstaat trägt im Wesentlichen dazu bei, dass eine Gesellschaft nicht auseinanderfällt.

In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, und bleiben Sie gesund!