Meine zweite Rede zu Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir stimmen heute über ein Anliegen ab, das das Leben von Millionen von Menschen direkt oder indirekt betrifft. Wir haben sehr viele Theorieargumente gehört. Deswegen möchte ich mit einem sehr konkreten Beispiel aus dem Leben beginnen. 80 Prozent aller Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen. Jetzt sagen hier einige: Was ist eigentlich so schwer daran, einen Termin einzuhalten? – In Berlin wurde erst kürzlich die Wohnung einer Frau zwangsgeräumt, und diese Frau passt so gar nicht in das Bild der faulen Arbeitslosen. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Mutter von drei Kindern. Nach einer Trennung und Verlust ihres Jobs leidet sie unter Depressionen und versucht irgendwie, diese Trennung, den Umzug und das ganze Chaos zu bewältigen. Das Jobcenter schreibt ihr nun, sie müsse zu einem Termin vorstellig werden, aber die Frau ist krank und reicht das falsche Formular ein. Erste Sanktion: Die Gelder werden gekürzt. Sie legt Widerspruch ein, aber leider nicht korrekt. Kurz darauf soll sie wieder ins Jobcenter kommen, aber sie kann nicht, weil eines ihrer Kinder eine Lungenentzündung hat. Zweite Sanktion: Die Gelder werden gekürzt.

Sie hat Angst vor dem Mitarbeiter im Jobcenter, und deshalb ignoriert sie seine Vorladungen. In dieser Spirale ist es irgendwann zu spät, und die Wohnung der ganzen Familie wird zwangsgeräumt. Und das Schlimme ist, dass diese Frau nun die komplette Schuld dafür auf sich nimmt und sagt: Weißt du, wenn man fit ist, dann schafft man das alles. Aber wenn du überfordert bist, vergisst du Sachen, liest nicht richtig, verpasst Termine, und mit jeder Niederlage wirst du schwächer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kann man natürlich sagen: Selber schuld! – Man kann aber auch sagen, dass diese Praxis mit der Würde des Menschen und mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes nicht mehr viel zu tun hat.

In der Anhörung haben sieben von zehn Sachverständigen dafür plädiert, das harte Sanktionsregime deutlich zu entschärfen oder ganz abzuschaffen oder zumindest auszusetzen; es gab einen sehr breiten Konsens, zumindest die Kosten der Unterkunft und die Heizkosten ganz von Sanktionen auszunehmen. Nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag von Union und SPD wieder, noch nicht einmal ein Prüfauftrag. Ich finde, ein Vertrag, der so ein zentrales Thema ausblendet, geht komplett am Leben vieler Menschen vorbei, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich möchte deshalb vier zentrale Argumente aus unserem Grünenantrag nennen.

Erstes Argument. Im SGB II heißt es: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll ein Leben in Würde ermöglichen. – Nun sind die Regelsätze aber eh schon auf Kante genäht. Eine Kürzung führt dazu, dass Menschen in existenzielle Notlagen gedrängt werden. Im letzten Jahr hatten wir sogar 34 000 Totalsanktionen. Ein Existenzminimum – das sagt der Name bereits – ist ein Minimum, und ein Minimum sollte nicht gekürzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Zweites Argument. Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt sind Kooperation und Vertrauen zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern zentral. Dazu gehört Augenhöhe; denn nur auf Augenhöhe können Menschen ihre Fähigkeiten und Talente einbringen. Viele Menschen gehen mit dem Wunsch einer klar definierten Weiterbildung oder sogar Umschulung in die Jobcenter und kommen mit etwas komplett anderem heraus. Das ist das Gegenteil von Augenhöhe, das ist einseitige Machtausübung, und das ist Gift für das Klima in den Jobcentern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Drittes Argument. Die Sanktionspraxis frisst Zeit und Energie auch des Personals in den Jobcentern. Die Agenturen für Arbeit sollen unterstützen und befähigen, nicht verwalten und kontrollieren. Im vergangenen Jahr wurde fast 1 Milliarde Euro, die eigentlich für die Förderung und Qualifizierung von Arbeitsuchenden vorgesehen ist, in den Verwaltungshaushalt der BA umgeschichtet. 1 Milliarde Euro, um ein System zu verwalten, das Menschen in Armut weiter ausgrenzt. Es wurde eben von Solidargemeinschaft gesprochen; ich finde, das ist für die Solidargemeinschaft genauso wie für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Viertes Argument. Solange der Vorrang der Vermittlung gilt, so lange werden Menschen immer auch in schlechte Arbeitsverhältnisse gezwungen, die prekär oder unterbezahlt sind. Wenn hier von Lohnabstandsgebot geredet wird, dann entgegne ich Ihnen: Es ist doch besser, für gute Arbeit und bessere Löhne zu sorgen, als gesetzlich Menschen in schlechte Arbeit zu zwingen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Zum Schluss mal grundsätzlich: Hartz IV ist zum Symbol für Abgehängtsein geworden; das können wir nicht länger leugnen. Hartz IV wird von vielen Menschen als Angstsystem aus genau diesen Gründen wahrgenommen. Ich finde, es kann nicht sein, dass viele Jobcenter immer mehr zu Hochsicherheitstrakten werden, weil Menschen den Staat nicht mehr als Unterstützung, sondern als Bedrohung erleben. Wie bitte schön soll da Vertrauen entstehen? Das, worum es, glaube ich, vielen in Wahrheit geht, ist – das ist auch in der Anhörung gesagt worden – Disziplinierung. Dieser Ansatz ist nicht nur gescheitert; er zeigt auch ein ganz fatales Menschenbild, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Die Leiterin des Kölner Arbeitslosenzentrums, die als Sachverständige präsent war, hat das in der Anhörung sehr treffend auf den Punkt gebracht: Menschen sind keine Postpakete. Man kann sie nicht einfach auf ein Fließband stellen, und dann kommen sie schon irgendwo richtig an. In Menschen muss man investieren und sich mit ihnen auseinandersetzen. – Genau das beantragen wir Grüne heute.

Ich bitte Sie: Schaffen Sie mit uns die Sanktionen ab! Stärken Sie die Rechte der Arbeitsuchenden! Verbessern Sie die Arbeit der Jobcenter! Schafen Sie Anreize statt Bestrafung! Und ich prophezeie Ihnen: Sie werden sehen, wie viel Potenzial in Menschen steckt, das heute völlig brachliegt. Deswegen bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!